· 

Stadt, Land, Provinz

Konflikte-und-Widerstand-gegen-Infrastruktur-Projekte-in-der-Provinz
Blick auf einen fränkischen Steinbruch

...Dass Arbeitskräfte im ländlichen Urban-Tourismus keine bezahlbaren Wohnungen finden und von weiter weg pendeln, stellt dann auf dem Land den Bezug zur Wohnungsfrage her und der damit verbundenen Gerechtigkeitsfrage. Oder dass Dorffeste den Erlebnis-Tourismus bedienen und Dörfler als rustikale Statisten auftreten - wahlweise als Krampus oder Fischer.

Eigentlich gibt’s eine Reihe von Konflikten, Klassen-, Geschlechter- und sonstige Ungleichheitsverhältnisse, die die Landbewohner*innen gegen ihre Kommunen oder auch gegenüber der Stadt in Stellung bringen könnten. Ländliche Regionen sollen sich mit vielen Problemen allein befassen. Wirtschaft, Bildung, Infrastruktur und Demokratie werden auf dem Land geschwächt. Reale Ungerechtigkeiten werden zementiert - zwischen Stadt und Land, aber auch auf dem Land selbst. 

Doch was auf dem Land passiert, ist etwas anderes. Der Autor und Geograph, Professor Dr. Bernd Belinda fasst es zusammen: „Anstatt also die strukturellen Verhältnisse zu reflektieren, welche die Unterschiede und Abhängigkeiten zwischen Stadt und Land hervorbringen, werden die Großstädter*innen und ihre Interessen für alles verantwortlich gemacht, was auf dem Land nicht gut läuft.“ (1

Die Landbevölkerung ist keine homogene Masse. Das kann ich aus eigner Erfahrung beisteuern. Doch die wenigen, anderen Stimmen und differenzierte Meinungen gehen oft unter. 

"So unterstellt der bayerische Ministerpräsident bei der Demonstration »Stoppt die Heizungsideologie« in Erding im Juni 2023 »ein grundsätzliches Misstrauen von Berlin gegenüber der ländlichen Bevölkerung« (zit. nach Wengert/Schmitt 2023) und sein Stellvertreter droht: »Jetzt ist der Punkt erreicht, wo die große schweigende Mehrheit sich die Demokratie zurückholen muss und denen in Berlin sagen: ›Ihr habt ja wohl den Arsch offen da oben.‹" (2)

 

Antimoderne Ideologien versprechen die Rückkehr zu einer heilen Ländlichkeit, mit traditionellen, patriarchalen Familienstrukturen und einer überschaubaren Gemeinschaft, die sich gegen „die da oben“ zur Wehr setzt.

Sie sind ideologische Abgrenzung zur Stadt und zur Rechtfertigung von „natürlichen Ungleichheiten", die zur Aufrechterhaltung von Harmonie, Zusammenhalt und Stabilität keine Differenz zulassen. 

Die Ideologie der Provinzialität, eine Weltanschauung und Haltung, stilisiert Natur und Landleben als ursprünglich, unverdorben und moralisch höherwertig. Ideologisch wird sich gegen diejenigen positioniert, die sich von der Enge und Kontrolle der ländlichen Gemeinschaft emanzipieren wollen. Und in urbanere Zentren abwandern.

 

"Nicht zuletzt in rechten Ideologien wird diese Romantisierung in Form von Feindlichkeit gegenüber Großstädten und der Verklärung des Lebens in der Provinz zugespitzt (Belina 2022: 48). Im idealisierten Bild des friedlichen, idyllischen Lebens auf dem Land drückt sich der Wunsch nach Überschaubarkeit und damit nach Stabilität und Sicherheit aus (ebd.: 14f.). Diese Projektion ermöglicht es, die Illusion von Autonomie und Naturbeherrschung aufrecht zu erhalten: In der Provinz kann das bürgerlich männliche Subjekt noch herrschen, anstatt beherrscht zu werden; dort wird es nicht in seiner Selbstkonstitution durch ›die Anderen‹ bedroht (ebd.: 24). In diesen Projektionen werden neben dem Wunsch, wieder ein stabileres Verhältnis zur Natur zu erlangen, auch antifeministische Motive sichtbar, da dort noch die natürliche, traditionelle Geschlechterordnung vorherrschen würde. Das Patriachat, als gesellschaftliche Struktur, ist eng mit dem Phantasma des idyllischen Lebens in der Provinz verknüpft (Mense 2022: 18). Das Lob der Provinz kann demnach als unreflektierte »Flucht vor der Moderne und ihren Zumutungen« (ebd.: 14) interpretiert werden. Sie verspricht eine romantisierte Natur, die beherrschbar ist, hält das Ideal der Gemeinschaft gegen die Isolation in der Stadt und bringt Tradition gegen die vorherrschenden Veränderungen und Krisen in Stellung." (3)

Soweit ein Zitat aus dem sehr empfehlenswerten Buch "Antifeminismus und Provinzialität". Und folgend: „Es zeigt sich immer wieder, dass auf dem Land konservativer gewählt wird als in der Großstadt (Kenny/Luca 2021), und auch, dass junge Männer deutlich konservativere Wahlentscheidungen treffen als junge Frauen (Hudde 2023).“ (4)

 

Wenn TradWives in sozialen Medien romantisch verklärt, Tonnen von weißer Wäsche auf Wäschleinen im Bauerngarten aufhängen, wird nicht die ungleich verteilte Care-Arbeit kritisiert! Logisch - da steht ein antifeministisches Weltbild auf der grünen Wiese.

Wie kann dem Antifeminismus aus der Provinz begegnet werden? 

"Der Provinzialität ist nur durch Politik beizukommen, durch das Aufeinanderprallen von Differenz, in dem progressive Möglichkeiten aufscheinen und umgesetzt werden. Auf diese Weise werden klare Kategorien, Verhältnisse und Identitäten infrage gestellt, werden Ambivalenz, Gewordenheit und Vermitteltheit, wird Reflexion befördert. Auch das ist geografisch: Es bedarf der physisch-materiellen Orte, an denen Begegnung und Austausch stattfinden können. Gerade auf dem Land müssen solche Orte infolge des Kahlschlags der vergangenen Jahrzehnte erst bzw. wieder geschaffen werden (Kersten/Neu/Vogel 2022)." (5)

 

Ein solcher Ort ist beispielsweise das Überland-Festival, das mit einem tollen Programm am letzten Wochenende in Görlitz stattfand.

 

Zitate aus "Antifeminismus und Provinzialität. Zur autoritären Abwehr von Emanzipation"  von Johanna Niendorf, Fiona Kalkstein, Henriette Rodemerk, Charlotte Höcker (Hg.), transcript Verlag, 2025
(1) Ebenda, Seite 30-31

(2) Ebenda, Seite 29

(3) Ebenda, Seite 73-74

(4) Ebenda, Seite 9

(5) Ebenda, Seite 34